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Zur « European Culture » :
gesellschaftliche Werteinstellungen in Europa
Einleitung: Kultur oder Kulturen Europas ?
Europa ist ein politischer Begriff. Seit dem Ende des 2.
Weltkrieges bezeichnet er den politischen Willen der
europäischen Staaten, das historisch-kulturelle Erbe der
europäischen Geschichte zu bewahren und als Konsequenz
einer konfliktreichen Vergangenheit dauerhaft Frieden
und Sicherheit zu schaffen. Aus diesem Willen heraus
erfuhr Europa einen beispiellosen politischen und
wirtschaftlichen Einigungsprozeß, der am Ende des 20.
Jahrhunderts mit der Einführung einer gemeinsamen
Währung in Westeuropa seinen vorläufigen Höhepunkt
findet.
Was aber ist Europa, und wie läßt sich seine kulturelle
Struktur erfassen? Was verbindet und was teilt den
europäischen Kontinent, welches sind die möglichen
gemeinsamen Werte und Vor-stellungen der Europäer?
Zahlreiche Versuche sind unternommen worden, die
heterogene Struktur Europas zu erfassen und entweder die
Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten der europäischen
Gesellschaften darzustellen.
Soziologisch läßt sich Europa als eine Makroregion
begreifen, in der mehrere Dimensionen der
innereuropäischen Differenzierung vorherrschen. So
konstatierte Max Haller drei traditionelle Kulturkreise
(germanisch-protestantisch, römisch-katholisch und
slawisch-orthodox), zwei ver-schiedene politische
Systeme (Kapitalismus/Sozialismus) und zwei verschiedene
Gesellschafts-stufen (entwickelt/weniger entwickelt),
die in Europa koexistieren. Orientiert man sich dagegen
an sozio-ökonomischen Kriterien wie Analphabetismus,
Urbanisierungsgrad, hohes Einkommen, niedrige
Säuglingssterblichkeit etc., kommt man als Ergebnis zu
einem europäischen Kernland, das in etwa deckungsgleich
mit der Europäischen Union ist und alle Kriterien
aufweist. Dieser Kern weist eine ähnliche historische
Identität auf, während zu den Rändern hin der Grad der
Übereinstimmung aller Merkmale abnimmt.[1][1]
Bereits die beiden Beispiele zeigen, das die
Beschäftigung mit den europäischen Gesellschaften zu
kontroversen Strukturierungen führt, die Europa entweder
teilen oder zu vereinen versuchen. Die Lesart Europas
bleibt so vom Blickwinkel abhängig. J. Berting/W.F.
Heinmeyer haben ein Modell entwickelt, das die
verschiedenen Betrachtungsweisen Europas zu ordnen
versucht. So lassen sich unter Berücksichtigung
konservativer und modernistischer Perspektiven insgesamt
fünf verschiedene Konzepte von Europa feststellen:
Europa als gemeinsames Erbe, als Gesamtheit von
Kulturen, als Gesamt aller nationalen Kulturen, als
Kulturkreise und als eine moderne Kultur im Entstehen.
Das ist im wesentlichen der konzeptuelle Rahmen, in dem
sich die Reflexion über Europa bewegt.
[2]
[2]
Edgar Morin hat in einer historischen Perspektive
aufgezeigt, daß die abendländische Kultur in Europa
einen homogenen Kulturraum hervorgebracht hat, in dem
Wissenschaft und Handel neuzeitliche Ideen wie
Aufklärung, Humanismus und Vernunft über den ganzen
Kontinent getragen haben. Parallel dazu haben sich mit
der Etablierung der Nationalstaaten in Europa auch
nationale Kulturen entwickelt, die im 19. Jahrhundert in
Übersee und im 20. Jahrhundert in Europa um die
kulturelle Vorherrschaft gekämpft haben. Erst die
Erfahrung zweier Weltkriege hat in den letzten fünfzig
Jahren über alle historisch-kulturellen Grenzen hinweg
neue politische Strukturen in Europa entstehen lassen,
die sowohl verschiedene Kulturkreise als auch
Gesell-schaften mit unterschiedlichen sozio-ökonomischen
Entwicklungsgraden vereinen.
[3]
[3]
Der folgende Artikel stellt die Frage, inwieweit durch
den europäischen Integrationsprozeß eine politische
Kultur Europas entstanden ist, die auf gemeinsamen
Werten basiert und von den europäischen Gesellschaften
geteilt wird. Um diese Werte zu lokalisieren, ist es
notwendig, die Grundsatzdokumente der europäischen
Integrationsorgane auf ihre kulturellen Inhalte hin zu
untersuchen.
[4]
[4]
Wertekonsens in der europäischen Politik
Das Ende des zweiten Weltkrieges stellt eine Zäsur in
der europäischen Geschichte dar. Der europäische
Kontinent verliert seine Vorherrschaft in der Welt an
die beiden Supermächte USA/UdSSR und wird in zwei
antagonistische Blöcke geteilt. Mit dem Kalten Krieg
setzt in Europa aus militärischen, ökonomischen und
politischen Gründen ein beispielloser Einigungs-prozeß
ein. Im Rahmen dieses Integrationsprozesses stellen sich
neu geschaffene Integrations-organe die Aufgabe, zur
Akzeptanz gemeinsamer europäischer Werte beizutragen.[5][5]
In militärischer Hinsicht entsteht 1949 eine
nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft zwi-schen
zwölf Staaten Westeuropas und Nordamerikas, die NATO,
während eine rein europäische Verteidigungsstruktur noch
an dem Widerstand Frankreichs scheitert. Erst 1954
entsteht eine militärische Zusammenarbeit auf
europäischer Ebene, die Westeuropäische Union (WEU), die
sich seit 1995 auf eigene Truppen stützen kann. Doch die
WEU bleibt der „europäische Pfeiler der NATO“ und soll
erst im Rahmen einer engeren militärischen
Zusammenarbeit zu einem rein europäischen Instrument
ausgebaut werden.
Politisch entsteht 1949 ein erster politischer
Staatenverbund ohne Machtbefugnisse, der Europarat. Der
Europarat ist ein Zusammenschluß von 40 europäischen
Staaten (1997), die sich den Schutz des gemeinsamen
Erbes des Kontinents als Aufgabe gestellt haben.
Wesentliche Ziel ist der Schutz der Menschenrechte: Zu
diesem Zweck wurde eine zwischenstaatliche
Gerichts-barkeit hergestellt, die aus der Europäische
Menschenrechtskommision und einem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte besteht.
1975 wird erstmals eine Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit von 35 Teilnehmer-staaten in Europa
abgehalten, die KSZE. Sie wird ein Forum für den Dialog
zwischen Ost und West zur Konfliktverhütung und stellt
mit ihren Schlußakten ein Regelwerk dar, das Maßstäbe
für das Zusammenleben in Europa setzt. Seit 1995 ist sie
in eine feste Institution um-gewandelt worden (OSZE), in
der sich alle Mitlieder zu westlichen Wertvorstellungen
wie Demo-kratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
bekannt haben. Weitere politische Institutionen sind das Europäisches Parlament (EP) und der Europäische Gerichtshof (EuGH), die beide 1951 mit der Gründung der westeuropäischen Montanunion entstehen. 1957 folgt die wirtschaftliche Zusammenarbeit Westeuropas in der Atomwirtschaft und schließlich der gemeinsame Markt, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Ziel dieser supranationalen Organisationen ist die Schaffung und Koordination von gemeinsamen Märkten in den Bereichen der Kohle-/Stahlproduktion, der Atomwirtschaft und dem Waren-verkehr.
Die EWG schließlich sorgt zuerst in der Landwirtschaft,
dann durch das Inkrafttreten der „vier Freiheiten“ im
Warenverkehr (freier Verkehr von Kapital, Waren,
Dienstleistungen und Personen) für eine wirtschaftliche
Dynamik. Die Dynamik des Warenverkehrs in der EWG führt
1986 zur Vereinigung der drei Verträge in der
Einheitlichen Europäischen Akte (EEA). Die EEA erweitert
die Machtbefugnisse des Rates und schreibt die Schaffung
eines Europäischen Binnenmarktes vor, die Europäische
Gemeinschaft (EG).
1992 erfolgt in Maastricht eine Revision der EG, die zum
Vertrag über die Europäische Union (EU) führt. Durch den
Maastrichtvertrag erhält die Gemeinschaft eine neue
supranationale Di-mension und erfährt eine politische
Erweiterung: Neben der Wirtschafts- und Währungsunion
mit einer gemeinsamen Währung und einer europäischen
Zentralbank wird eine intergouver-nementale Kooperation
in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Innen-
und Rechtspolitik eingeführt. Der Vertrag von Amsterdam
(1996) schließlich erweitert die politische Kooperation
um die Bereiche Sozial- und Beschäftigungspolitik.
Kulturelle Inhalte der europäischen Einigung
Die europäischen Integrationsorgane haben sich alle um
die Formulierung gemeinsamer Ziele und verbindlicher
Rechtsnormen bemüht, die den Wertekonsens in der
politischen Kultur Europas widerspiegeln. Ausgangspunkt
der europäischen Formulierung von Rechtsnormen ist die
Deklaration der Menschenrechte durch die UNO im Jahre
1948, der zwei Jahre später das europäische Pendant
folgt. Der Europarat verabschiedet 1950 in Rom eine
„Konvention über die Menschenrechte und Grundfreiheiten“
(EMRK), die der Grundstein der politischen
Kon-sensbildung in Europa wird.
„Getragen vom gleichen Geist, einem gemeinsamen Erbe und
gleichen politischen Tradi-tionen“ heißt es in der
Präambel, formuliert die Konvention verbindliche
Freiheiten und Rechte für die Bürger der
Unterzeichnerstaaten, die sich den politischen
Prinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit
verpflichtet fühlen.[6][6]
Inhalte sind das Recht auf Leben, auf Freiheit und
Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Privatleben und Familie
sowie das Recht auf Heirat. Als Freiheiten wurden die
Meinungsfreiheit, die Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit, die Versamm-lungs- und die
Vereinigungsfreiheit festgeschrieben.
Desweiteren werden Folter, Sklaverei und Zwangsarbeit
sowie Diskrimination verboten. 1994 wurde die EMRK durch
ein Zusatzprotokoll ergänzt, das den Schutz des
Eigentums, das Recht auf Bildung und das Recht auf
freie Wahlen hinzufügt. Die Menschenrechtskonvention
(EMRK) legt damit erstmals einen Katalog europäischer
Werte in Form von verbindlichen Rechtsnormen vor, der in
der Folgezeit der Bezugspunkt für die weitere
Konsensbildung im kulturellen und sozialen Bereich wird.
Vier Jahre nach der EMRK wird 1954 in Paris die
„Europäische Kulturkonvention“ vom Euro-parat
unterschrieben, die die „Ideale und Prinzipien zwischen
seinen Mitgliedern, die ihr gemeinsames Erbe sind,“
weiterverbreiten soll. Die Unterzeichner verpflichten
sich, „gemein-same kulturelle Aktivitäten von
europäischen Interesse“ zu entwickeln und Objekte mit
„europa-weiten kulturellen Wert“ zu schützen und
zugänglich zu machen. Ziel wird der Schutz einer
„Europäischen Kultur“, der durch das gegenseitige
„Studium der Sprachen, der Geschichte und der
Zivilisationen“ der Mitgliedstaaten, aber auch durch das
Studium „ihrer gemeinsamen Zivilisation“ verwirklicht
werden soll.[7][7]
Die Kulturkonvention trägt somit einerseits den
nationalen Kulturen Rechnung, andererseits wird jedoch
auch auf eine gemeinsame Zivilisation/Kultur bezug
genommen, ohne jedoch In-halte der gemeinsamen Kultur zu
formulieren. Hauptforderung wird der Wille, die anderen
europäischen Kulturen näher kennenzulernen. Erst 1961
bemüht sich erneut der Europarat, konkrete soziale
Rechte in der „Europäischen Sozialcharta“ zu
formulieren, die den Wertekonsens in Europa um eine
soziale Dimension er-weitert. In der Sozialcharta werden
in 19 Artikeln Rechtsnormen formuliert, die den
Lebens-standard und das „soziale Wohl“ der Bevölkerung
der Mitgliedstaaten sichern sollen. Mit Bezug auf die
EMRK wird für jeden das Recht auf Arbeit, auf eine
Berufsausbildung, das Recht zur Vereinigung, das Recht
auf soziale Sicherheit, sowie das Recht auf Fürsorge
festgeschrieben. Ar-beitnehmern wird das Recht auf
soziale Dienste und auf Kollektivverhandlungen
zugesprochen. Kindern und Jugendlichen wird das Recht
auf Schutz vor sittlichen und körperlichen Gefahren,
Behinderten das Recht auf eine berufliche Ausbildung
oder Eingliederung, Wanderarbeitern, Müttern und
Familien das Recht auf besonderen Schutz zugesprochen.[8][8]
Die Revision der Sozialcharta im Jahre 1996 erweitert
den sozialen Schutz auf ältere Personen und Arbeitslose,
verbietet die Diskrimination aufgrund des Geschlechts
oder des Familienstandes und fixiert das allgemeine
Recht auf eine Wohnung.[9][9]
Auch die KSZE hat vor allem in ihren Schlußakten von
Paris (1989) und Kopenhagen (1990) auf die sog.
“menschliche Dimension“ Bezug genommen und gemeinsame,
aber völkerrechtlich nicht verbindliche Menschenrechte
und Grundfreiheiten formuliert. In der Pariser
Schlußakte werden Menschenrechte und Grundfreiheiten vom
Geburtsrecht abgeleitet und als wichtigste Aufgabe der
Regierungen angesehen. Jedem werden mit Bezug auf die
EMRK ökonomische, soziale und kulturelle Rechte
zugesprochen. Nationalen, religiösen, ethnischen und
kulturellen Minderheiten werden das Recht auf die
Entfaltung ihrer Identität ohne Diskrimination und mit
gleichen Rechtsgrundlagen zugesprochen.[10][10]
In der Kopenhagener Schlußakte werden eine
pluralistische Demokratie und der Rechtsstaat als
wesentliche Voraussetzungen für Menschenrechte und
Grundfreiheiten angesehen. Unter an-derem sollen
folgende Rechte geschützt und gefördert werden: das
Recht auf freie Wahlen, auf eine repräsentative
Regierung, auf Trennung von Staat und Parteien, auf
Gleichheit vor dem Ge-setz, das Recht auf politische
Organisation, das Recht auf Freizügigkeit und auf
Besitz. Zu den Freiheiten zählen die
Versammlungsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit, die
Meinungs- Ge-wissens-, Gedanken- und Religionsfreiheit.[11][11]
Während der Europarat und die KSZE so die treibenden
Kräfte in der Formulierung gemeinsamer Rechtsnormen in
Europa wurden, hat auf der Ebene der Europäischen Union
noch keine Kodifizierung gemeinsamer Grundrechte
stattgefunden. Die EU hat sich lediglich zu einer
Er-klärung der „Achtung der Grundrechte“ bereit
gefunden, in der ausdrücklich bezug auf die EMRK
genommen wird.
[12]
[12]
Obwohl lediglich in der Einheitlichen Europäischen Akte
die EMRK genannt wird, haben Grundrechte durch die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sozusagen
durch die Hintertür Eingang in die EU gefunden. Seit
1974 hat der EuGH als zentrales Rechtsorgan der Union
folgende Einzelgrundrechte nach Klagen von Unternehmen
und Mitgliedstaaten aner-kannt: Das Recht auf
Menschenwürde, auf Besitz, auf das Gleichheitsprinzip,
auf Vereinigungs-, Religions-, Bekenntnisfreiheit, auf
Berufs-, Handels-, Wirtschafts- und Wettbewerbsfreiheit,
auf die Achtung des Familienlebens und sowie der
Privatsphäre.[13][13]
Auch das Europäische Parlament hat darauf gedrängt, der
EMRK beizutreten, wurde aber durch das EuGH in die
Schranken gewiesen. So wurde schließlich 1989 eine
„Entschließung zur Erklärung der Menschenrechte und
Bürgerfreiheiten“ vom EP verabschiedet, die einen
detail-lierten Grundrechtskatalog enthält. Auch dort
finden sich in 28 Artikeln angestrebte Minima an
gemeinsamen „klassischen“ Grundwerten, zu denen die
Würde des Menschen, das Recht auf Leben, Freiheit und
Sicherheit, auf Rechtsgleichheit, auf Gedanken-,
Gewissens-, Religions-, Meinungs- und
Informationsfreiheit gehören. Auch werden kollektive
soziale Rechte wie das Recht auf Streik, auf sozialen
Schutz, auf Bildung und Ausbildung, auf Freizügigkeit
und Schutz der Familie einbezogen.[14][14]
Weitergehende soziale Grundrechte wurden vom
Europäischen Parlament auch in einer Ent-schließung zur
sozialen Dimension des Binnenmarktes festgeschrieben,
die als „Gemeinschafts-charta der sozialen Grundrechte
für Arbeitnehmer“ 1997 von der Europäischen Kommission
verabschiedet wurde. Darin werden als neue Rechte die
Chancengleichheit, das Streikrecht, das Recht auf Rente
und auf Arbeitslosenunterstützung festgehalten.[15][15]
Im EG-Vertrag selbst schließlich wurden spezifische,
auf die EG bezogene Grundrechte fixiert, die das Verbot
der Diskriminierung, das Recht auf Freizügigkeit und
freie Niederlassung der Bürger, auf soziale Sicherheit
der Arbeitnehmer sowie freien Dienstleistungsverkehr und
Gleich-heit des Arbeitsentgelts vorschreiben.[16][16]
Werteminima als Ausdruck einer gemeinsamen Kultur
In den dargestellten internationalen Verträgen kommen
gemeinsame Rechtsnormen zum Aus-druck, die Rückschlüsse
auf die in den beteiligten Sozialsystemen
vorherrschenden Werte zulassen. Die europäischen
Institutionen haben die Aufgabe übernommen, den Konsens
über positiv beurteilte Zustände - soweit möglich - in
Normen umzuformulieren und durch Sanktion zu
stabilisieren.[17][17]
Sie repräsentieren den Wertekonsens der die Institution
konstituierenden Mit-glieder und somit die Werteminima
aller Unterzeichnerstaaten. Grundlage des europäischen Wertekonsenses ist das gemeinsame historische Erbe der nicht mit Europa gleichzusetzenden abendländischen Kultur. Die griechisch-römische Antike, das Christ-entum, die Aufklärung und der Humanismus sind wesentliche Bestandteile der abendländischen Kultur, wurden jedoch national unterschiedlich interpretiert. W. Mickel stellt dazu lapidar fest: „Es gibt nicht die europäische Kultur“.[18][18] Auch der Historiker F. Furet warnt davor, so etwas wie eine „supranationale europäische Kultur“ zu erfinden.[19][19] Das bedeutet nicht, daß es keine euro-päischen Gemeinsamkeiten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gibt.[20][20]
Auf einzelne kulturelle Errungenschaften Europas wie
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Basis für die
politische Kultur Europas wird in allen
Grundsatzdokumenten verwiesen. Nur in einer
pluralistischen Demokratie ist die Akzeptanz einer
Rechtsordnung möglich, die von einer in freien Wahlen
entstandene Mehrheit getragen wird. Eine von den
Regierungen respektierte Rechtsordnung wiederum ist der
Garant für die Verwirklichung von individuellen Rechten,
die auf europäischer Ebene in allen Bereichen des
menschlichen Zusammenlebens formuliert wor-den sind.
Die europäischen Grundsatzdokumente sprechen dem
Individuum Menschenrechte zu, die seine Grundbedürfnisse
nach einem Leben in Würde, Freiheit, Gleichheit und
Sicherheit garantieren. Ein Leben in Freiheit enthält
auch Grundrechte, die es dem Individuum erlauben, sein
Gewissen, seine Meinung und seine Gedanken zu
artikulieren. Gleichheit wird vor allem als
Rechtsgleichheit und Chancengleichheit verstanden, die
bei europäischen Rechtsinstitutionen eingeklagt werden
können. In Bereich der Politik wird jeder
gesellschaftlichen Gruppe das Recht auf Demonstration,
Versammlung, Vereinigung und politischer Partizipation
zugesprochen, um so nach der Erfahrung der
sozialistischen Einparteien-Regime in Osteuropa dem
Pluralismus der politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Akteure in den europäischen Gesellschaften
gerecht zu werden. Sicherheit schließlich bedeutet die
territoriale Integrität nach außen und die
demokra-tische Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols.
Die soziale Dimension ist ein weiteres wesentliches
Gebiet, auf dem ein weitreichender Kon-sens in Europa
stattgefunden hat. Die Familie wird als Grundeinheit der
Gesellschaft angesehen, das Privatleben wird geschützt
und die Heirat als ein zu schützender Wert betrachtet.
Kulturelle Minderheiten sind rechtlich gleichgestellt,
regionale Kulturen mit eigener Sprache und Geschichte
genießen der Schutz der Integrationsorgane. In der
Kulturkonvention kommt zum Ausdruck, das die Europäer
ein vielschichtiges Verständnis von Kultur haben, in dem
kulturell unterschiedliche Regionen, Minderheiten und
Nationen ihren Platz finden.
Ein weiterer zentraler Wert ist die Religion, dessen
Ausübung in allen Verträgen garantiert wird. Jeder
Europäer hat weiterhin das Recht auf Ausbildung, Arbeit
und Wohnung. Rahmen-bedingung dafür ist ein
Wohlfahrtsstaat, der die soziale Sicherung und ein Netz
sozialer Dienste bereitstellt sowie die Fürsorge für
sozial schwache Gesellschaftsgruppen übernimmt.
Im wirtschaftlichen Bereich dagegen bleibt Europa
zweigeteilt. Westeuropa hat durch die EU einen weit
fortgeschrittenen Wertekonsens („vier Freiheiten“,
Unternehmens-, Wirtschafts-, Berufs-, Handels-,
Niederlassungsfreiheit etc.) kodifiziert und einen
einheitlichen Wirtschafts-raum mit einer
marktwirtschaftlichen Grundordnung geschaffen, indem der
EuGH verbindliches Recht auslegt. Osteuropa dagegen
wartet noch auf seine die Aufnahme und die damit
verbundene Akzeptanz der Werteminima der EU.
Wertvorstellungen der EU-Bürger
Innerhalb eines halben Jahrhunderts ist es Europa gelungen, einen Integrationsprozess einzuleiten, der auf kultureller Ebene mit der „Erklärung der Menschenrechte und Bürgerfreiheiten“ 1989 durch das Europäische Parlament seinen vorzeitigen Höhepunkt erreicht hat. Damit wird erstmals in der Geschichte Europas ein Prozess der Bildung eines politischen Konsens erkennbar, in dem sich die Nationalstaaten vertraglich auf gemeinsame Ziele, nämlich Frieden und Sicherheit, und auf gemeinsame Werte, nämlich Menschenfreiheiten und bürgerliche Grund-rechte, einigen.
Doch der vertragliche Konsens bleibt von der
Legitimation durch die nationalen Gesellschaften
abhängig. Eindrucksvolles Beispiel dieses
Legitimierungsbedarfs war die Volksbefragung zum
Maastrichtvertrag 1994 in Frankreich, in der sich nach
einer heftigen öffentlichen Diskussion nur eine knappe
Mehrheit (50,05 %) für die Unterzeichnung des Vertrages
aussprach. Darin kommt zum Ausdruck, daß der
Integrationsprozess vor allem vom Willen der Bevölkerung
abhängig bleibt.
In unserem Zusammenhang stellt sich somit die Frage,
inwieweit gemeinsame Werte im Bewusstsein der einzelnen
europäischen Gesellschaften überhaupt vorherrschen und
den politischen Wertekonsens der Nachkriegspolitik
legitimieren. Die Frage ist nicht neu, und die
Europäische Kommission selbst beschäftigt sich seit
Jahren ausführlich mit der Akzeptanz vertraglich
fixierter Werte in Westeuropa. Zu diesem Zweck wird seit
1973 eine Umfrage „Eurobarometer“ durchgeführt, die
unter anderem die Akzeptanz der politischen Grundwerte
untersucht. Das Eurobarometer ist ein Fragenkatalog, der
unter der Leitung der Europäischen Kommission zweimal
jährlich durch die nationalen
Meinungsforschungsinstitute 1000 Personen pro Staat
vorgelegt wird. Es stellt eine wesentliche Quelle Für
die Untersuchung der europäischen Einigung dar. Zentrale
Elemente dieser Umfragen sind neben den Grundwerten in
Europa die Zustimmung zur europäischen Integration, die
Entwicklung einer europäischen Identität sowie die
Zufriedenheit mit der Demokratie.
Europäische Integration und europäische Identität
Die Integration in Europa bleibt von der Zustimmung der
Bevölkerung abhängig. Obwohl der bisherige
Einigungsprozess von den Regierungen ausging, haben
verschiedene Volksbefragungen gezeigt, dass die Bürger
trotz eines niedrigen Wissenstands über die EU konkrete
Vorstellungen über den Einigungsprozess haben und ihre
Möglichkeiten nutzen, um auf die Entscheidungen
einzuwirken.
Seit Beginn der Eurobarometer-Umfragen wird die Idee
eines vereinten Europa von den Bürgern begrüßt.
Allgemein erfreut sich der Prozess der europäischen
Einigung wachsender Zustimmung. Seit 1973 ist der Anteil
der Befürworter der Vereinigung Europas in einem
Zeitraum von 17 Jahren von 62 auf über 80
%
gestiegen.
[21]
[21] Auch die Mitgliedschaft in der EU wird von einer
Mehrheit als positiv empfunden. Über 50
%
der befragten Bürger sind der Meinung, dass die
Mitgliedschaft ihres Landes in der EU eine „gute Sache“
ist.
Während die abstrakte Idee einer Vereinigung Europas
positiv aufgenommen wird, stellt man fest, das die
EU-Mitgliedschaft von dem Erfolg der EU, aktuelle
Probleme losen zu können, abhängig bleibt. S.
Immerfall/A. Sobisch zeigen auf, das die Zustimmung zur
Union von der wirtschaftlichen Situation abhängig
bleibt.
[22]
[22] Mit dem Ansteigen der Arbeitslosenquote in Europa
sinkt die Zustimmung zur Mitgliedschaft in der Union.
Eine konkrete europäische Politik bleibt so von ihren
Erfolgen abhängig und wird an diesen gemessen. Die
Erfolgs Abhängigkeit der Zu-stimmung ist ein Indiz Für
eine utilaristische Sicht der Bürger der europäischen
Einigung.
Ein weiteres wesentliches Thema für das Fortschreiten
der europäischen Integration ist die Ent-wicklung einer
europäischen Identität. Identität wird im allgemeinen
als die Selbstinterpre-tation des Individuums
verstanden, die sich aus der Mitgliedschaft in einer
sozialen Gruppe entwickelt. Die Summe aller
Identifikationen einer Person, die sich aus
verschiedenen Mitglied-schaften ergeben, bildet ihre
Identität.
Betrachtet man die Trends der Eurobarometer-Umfragen zur
Entwicklung einer europäischen Identität, so stellt man
fest, daß die Identifikation mit Europa sich auf einem
sehr niedrigen Niveau bewegt.
Abb. 2: Nationale vs. europäische Identität
(in
%)
Quelle: Eurobarometer (EB) Nr. 49 Herbst 1998
Auf die Frage, wie sich die Bürger in Westeuropa in
naher Zukunft sehen, antworteten im Frühjahr 1998 nur 5
% der Befragten mit „als Europäer“ (1994 waren es noch 7
%), während sich 44 % weiterhin nur als nationale
Staatsbürger sehen. Lediglich 6 % der Befragten sehen
sich in Zukunft zuerst als Europäer und dann als
Staatsbürger ihrer Nation sehen, während 41 % ihrer
nationalen Identität den Vorrang vor einer europäischen
Identifikation geben. Die bloße Mit-gliedschaft in der
EU hat nicht zu einer gemeinsamen Identität der
Unionsbürger geführt. Nach Ländern aufgeschlüsselt
stellt man fest, daß lediglich Luxemburg mit seiner
hohen Anzahl an Ausländern auf einen zweistelligen Wert
von Befragten kommt, die sich nur als Europäer fühlen.
Insgesamt verspüren über 80 % der EU-Bürger
ausschließlich oder zuerst eine nationale Identität.
Doch ist eine Identifikation mit Europa durchaus
vorhanden. Zu einem gewissen Grad identifizieren sich
über 50
%
der Befragten mit Europa als Teil ihrer Identität.
Obwohl 40
%
der Bürger nur eine nationale Identität verspüren,
stellt die europäische Einigung in der Wahrnehmung der
Bürger keine Bedrohung dar. Eine Mehrheit der Europäer
ist der Meinung, das die europäische Einigung keine
Gefahr Für die nationalen Identitäten und Kulturen
darstellt, sondern zu deren Schutz beitragen kann. 60 %
der Europäer sind der Mein-ung, das die europäische
Einigung sogar einen Schutz Für die nationalen
Identitäten darstellt. Durchschnittlich 50 SYMBOL 37 \f
"Symbol" \s 12 % der Europäer sind sogar der Meinung,
das die EU vor allem dazu dienen sollte, die nationalen
Kulturen in Europa zu schützen. Lediglich Großbritannien
und Irland fürchten um ihre Identität und Kultur.
[23][23]
Auch stellt die Dominanz der nationalen Identität kein
Hindernis Für die Entwicklung einer europäischen
Identität dar. Eine große Mehrheit ist sogar der
Meinung, daß eine europäische und eine nationale
Identität miteinander vereinbar sind. Nach
sozio-demographischen Kategorien aufgeschlüsselt stellt
man fest, daß vor allem junge Europäer sich häufig (15
%) oder zumindest manchmal (40 %) als Europäer fühlen,
wobei das Gefühl ein Europäer zu sein mit dem
Bildungsstand der befragten Person steigt.
[24]
[24]
Letztendlich bleibt die Identifikation mit Europa
nutzenorientiert. Ausschlaggebend sind die Vorteile, die
durch die Mitgliedschaft in der EU wahrgenommen werden.
Angesichts eines drohenden Verlustes der eigenen
Identität erscheint die europäische Einigung als das
geeignete Mittel, um die Mitgliedsstaaten vor dem
Verlust ihrer Identitäten zu schützen. Eine Mehrheit der
Europäer ist der Meinung, daß „der einzige Weg, unsere
nationalen, geschichtlichen und kulturellen Identitäten
(…) gegen die Herausforderung der großen Weltmächte zu
verteidigen, darin besteht, (…) die Länder Europas
wirklich zu vereinen“.
[25]
[25]
Grundwerte der Demokratie
Seit dem Ende des Totalitarismus in Europa hat sich in
den westeuropäischen Gesellschaften eine demokratische
Kultur entwickelt, die von einer großen Mehrheit der
Bürger getragen wird. Seit 1989 ist die Demokratie auch
in Ost- und Mitteleuropa die Grundlage der politischen
Ord-nung. Betrachtet man jedoch die Zufriedenheit mit
der Demokratie im eigenen Land, stellt man fest, daß
zwischen Ost- und Westeuropa große Unterschiede
vorherrschen.
Nach einer Eurobarometer-Umfrage von 1989 sind 95
%
der befragten West Europäer prinzipiell für die Idee der
Demokratie. Auch ist eine große Mehrheit von 78
%
der Meinung, daß eine „Demokratie immer besser als eine
Diktatur ist“.
[26]
[26] Die Westeuropäer sind zu 49
%
mit der Funktionsweise der Demokratie in ihrem Land
zufrieden. Spitzenreiter sind die Dänen mit 77
%,
wahrend 66 bzw. 67
%
der Belgier und Italiener „nicht sehr“ oder „überhaupt
nicht zufrieden“ sind. Auch in Frankreich, Deutschland
und Portugal überwiegt die Unzufriedenheit mit der
nationalen Demokratie.
In Ost- und Zentraleuropa dagegen herrscht eine tiefe
Unzufriedenheit mit der Demokratie. In den zehn mit der
EU assoziierten Ländern sind 79
%
der Befragten „nicht sehr“ oder „überhaupt nicht
unzufrieden“ mit der Funktionweise der Demokratie in
ihrem Land. Lediglich in Albanien, Kroatien und Polen
sind knappe Mehrheiten der Meinung, das die Demokratie
in ihrem Land zufriedenstellend funktioniert. In
Bulgarien und Ungarn sind 80 bzw. 77
%
überhaupt nicht zufrieden, in Rußland sind sogar 88
%
der Befragten unzufrieden mit ihrer Demokratie. Befragt
nach dem Respekt der Menschenrechte in ihrem Land,
ergibt sich ein ähnliches Bild: 81
%
der Befragten in Ost- und Mitteleuropa sind der Meinung,
das die Menschenrechte „wenig“ oder „überhaupt nicht“
respektiert werden.
[27]
[27]
Diese negative Beurteilung der Demokratie und der
Wahrung der Menschenrechte in Ost- und Zentraleuropa
zeigt jedoch auf, das ein kritisches Bewußtsein in bezug
auf das politische System und eine Vorstellung von
Grundrechten vorhanden sind, an denen die jungen
osteuropäischen Demokratien gemessen werden. Insofern
kann man annehmen, das Demokratie und Menschen-rechte
allgemein positive Werte sind, die jedoch nach Meinung
der Befragten in Ost- und Mitteleuropa noch nicht zur
Zufriedenheit der Bevölkerung respektiert werden. Betrachtet man die Umfragen zu den Wertvorstellungen der EU-Bürger, stellt man fest, daß die in den europäischen Grundsatzdokumenten festgeschriebenen Grundrechte im EU-Durch-schnitt von der Mehrheit der Bürger akzeptiert werden. Nach einer Eurobarometer-Umfrage im Herbst 1988 ist eine Mehrheit der EU-Bürger der Meinung, daß die in der Menschenrechts-konvention festgeschriebenen fundamentalen Grundrechten unter allen Umständen respektiert werden sollten.
An der Spitze der Bewertung stehen das Recht auf
Ausbildung, Privatleben und Arbeit. Im EU-Durchschnitt
sind über 90
%
der Europäer der Meinung, das die drei Rechte unter
allen Um-ständen respektiert werden sollten. In den
Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Grossbrittanien,
Irland und Spanien erhält das Recht auf Ausbildung die
höchste Zustimmung. Die Akzeptanz des Rechts auf Arbeit
erreicht die höchsten Werte in Irland, Italien und
Spanien, wo die Arbeits-losenquoten 1988 die 10
%
überstiegen. In Dänemark und in der Bundesrepublik
dagegen be-wegte sich die Akzeptanz des Rechts auf
Arbeit auf dem niedrigsten Niveau mit immerhin 80 bzw.
76
%.
Nach den individualistisch einzustufenden Werten Arbeit,
Ausbildung und Privatleben folgen klassische Rechte auf
Gleichheit, Sicherheit und Religionsfreiheit. Über acht
von zehn Westeuropäern waren 1988 der Meinung, daß die
Gleichheit vor dem Gesetz, die Sicherheit der Bürger und
ihre Religion unter allen Umständen respektiert werden
müssen. Die Religionsfreiheit erreicht in den
Niederlanden den höchsten Wert (89
%),
Die Gleichheit vor dem Gesetz und die Sicherheit der
Bürger werden vor allem in der Bundesrepublik als
wichtig angesehen.
Das Recht auf Information, auf Privateigentum und auf
eine eigene Kultur wird im EU-Durchschnitt von knapp 80
%
der Befragten als wichtig angesehen. Die Iren und die
Italiener legen mit 89 bzw. 88 den größten Wert auf ihre
Kultur, die Luxemburger und die Deutschen sind die
größten Befürworter des Privateigentums. Das Recht auf
Information ist vor allem den Spaniern und Franzosen
sehr wichtig.
Schlußlichter in den Wertvorstellungen der EU-Bürger
sind das Recht auf Meinungs- und Ver-sammlungsfreiheit
sowie das Recht auf Asyl (51%).
Die Meinungsfreiheit erreicht in Deutschland den
Spitzenwert von 89
%,
wahrend die 32
%
der Briten diese von der Situation abhängig machen.
Jeder vierte Belgier ist der Meinung, daß die
Versammlungsfreiheit ein relativer Wert ist, der von der
Situation abhängig bleibt. In Deutschland,
Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden ist eine
Mehrheit der Befragten der Meinung, daß das Recht auf
Asyl von der Situation abhängig sein sollte. Deutschland
und Großbritannien sind auch die Länder, die im
EU-Durchschnitt den größten Anteil an Ausländern
aufweisen.
Unter dem Strich läßt sich feststellen, das im
Bewußtsein der EU-Bürger individualistische Rechte
dominieren, die den Akzent auf den Schutz des
Privatlebens und die Integration des Individuums in das
Wirtschaftsleben legen, während kollektive Rechte wie
die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in den
Hintergrund rücken, oder wie Asylrecht, sogar auf
Ablehnung stoßen.
Neuere Umfragen im Europa der 15 bestätigen diese
Tendenz der Individualiserung nach innen und der
Abschottung nach außen.
[28]
[28] Nach einer Umfrage im Eurobarometer Nr. 47 sind 41
%
der Westeuropäer der Meinung, das es zu viele Ausländer
in ihrem Land gibt, 33
%
betrachten sich selbst als „leicht rassistisch“. Diese
ablehnende Haltung gegenüber Ausländern bleibt nicht
ohne Auswirkungen auf die uneingeschränkte Akzeptanz des
Asylrechts. Die Tendenz zur Individualiserung hingegen wird sichtbar in dem Wunsch nach mehr privater und beruflicher Selbstverwirklichung. Nach einer Euroopinion-Umfrage von 1997 ist eine große Mehrheit der Westeuropäer ist der Meinung, daß es wichtig ist, einerseits mehr Zeit in die Selbstverwirklichung zu investieren und neue Facetten seiner Person zu entdecken, andererseits im Leben erfolgreich zu sein und viel Geld zu verdienen.[29][29] Wesentliche Bedingungen Für gesell-schaftlichen Erfolg und persönlicher Verwirklichung sind aber eine Ausbildung und ein Arbeits-platz. Dementsprechend nehmen das Recht auf Ausbildung und Arbeit einen hohen Stellenwert im Bewußtsein der EU-Bürger ein.
Epilog: Europa als Wertegemeinschaft
Der oft bemühte Begriff der Werte stellt nach einer
berühmten Definition von E. B. Tylor neben „den
Wissenschaften, dem Glauben, den Künsten, der Moral, den
Gesetzen, den Brauchen und allen anderen vom Menschen
erworbenen Fähigkeiten und Gewohnheiten (…)“ eine
wesentliche Grundlage einer Kultur dar.
[30]
[30]
Bereits in der Konzeption von Max Weber bildet der
Wertebegriff die zentrale Kategorie für die Deutung
kultureller Muster. Kultur ist für Weber „ein vom
Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung
bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen
Unendlichkeit des Weltgeschehens“.
[31]
[31] Dieser sinnvolle Ausschnitt manifestiert sich für
Weber in Handlungen wie z. B. Ritualen, deren
historische Genese rekonstruiert werden kann.
Individuelle und kollektive Handlungen hängen jedoch
nicht in der Luft, sondern ihnen liegen „Wertprinzipien“
zugrunde, die sich in bestimmten Kulturformen
manifestieren. Die Systemtheorie hat den Wertebegriff aufgenommen und weiterentwickelt. Talcott Parsons hat in Auseinandersetzung mit Max Weber den Werten eine weichenstellende Bedeutung in sozialen Systemen zugesprochen: „Soziale Systeme bestehen aus interagierenden Rollen innerhalb von Kollektiven, deren spezifische Interaktion durch Normen geordnet wird, die in kulturellen Wer-ten begründet und an kulturellen Werten orientiert sind“. [32] [32] Auch hier bilden Werte das zentrale Element eines sozialen Systems, das für deren Einhaltung gesellschaftliche Normen etabliert, die die Interaktion im Kollektiv steuern. Doch ist damit noch nichts über den Charakter der Werte ausgesagt.
Die französischen Soziologen Raymond Boudon und
Francois Bourricaud haben sich bemüht, den Wertebegriff
seines paradigmatischen Charakters zu entledigen. In
ihrem Entwurf sind Werte „kollektive Präferenzen“
zugunsten „positiv beurteilter Zustande“ eines sozialen
Systems. Der Präferenz begriff ist insofern von Vorteil,
weil zum Ausdruck bringt, das es sich um eine Auswahl
von Werten handelt, die in Abwägung zu den mit ihnen
verbundenen Vorteilen zu herrschenden Werten avancieren.
Damit wird dem dichotomen Charakter der Werte Rechnung
getragen, denn wenn es herrschende Werte gibt, muß es
Werte geben, die als abweichend eingestuft werden.
[33][33]
Damit sind schon wesentliche Merkmale des Wertebegriffs
eingeführt. Werte sind relativ, willkürlich und in einen
institutionellen Kontext eingebettet. Ralf Dahrendorf
hat in seiner Kritik der Parsons‘schen Systemtheorie
darauf aufmerksam gemacht, das hinter Werten eine
Rollener-wartung steht, die „durch die sanktionierende
Kraft der Herrschenden aufrechterhalten wird.“
[34]
[34] Anschauliches Beispiel für die Relativität der
Werte ist die in Europa dominierende Monogamie, die in
Abwägung zur negativ beurteilten Polygamie als
kollektive Präferenz in dem institution-ellen Kontext
der Einehe eingebettet ist.
Dieser dichotome Blickwinkel erlaubt es
Bourdon/Bourricaud, einen „harten Kern“ von Werten zu
konstatieren, dem ein Potential von „wandelbaren Werten“
zur Seite steht. Dabei bleibt jedoch offen, wie sich
beide konstituieren. Die Summe aller Präferenzen bildet
das Wertesystem eines sozialen Systems, das für
Boudon/Bourricaud wiederum nichts anderes ist als die
Summe der Traditionen einer Gesellschaft. Wertesysteme
als Traditionen zu betrachten wird so zum Ver-such, den
statischen, selektiven und evolutiven Charakter der
Werte zu auszudrücken: „Man kann Wertesysteme (…) als
Traditionen behandeln – das heißt als Geschichten mit
ihren Wieder-holungen, ihren Auslassungen und ihren
immer wieder vorkommenden Änderungen“.
[35]
[35]
Traditionen setzen Akzente zugunsten bestimmter Werte,
sie wiederholen sich und ändern ihre Inhalte. Ihr
„harter Kern“ findet sich jedoch im institutionellen
Rahmen einer Gesellschaft wieder, d. h. die Institution
wird die „Schaltstelle“ zwischen herrschenden Werten und
recht-lichen Normen.
Ähnlich argumentiert Anthony Giddens, wenn er Werte als
„ abstrakte Ideale“ und Normen als „definierte Regeln“
einer Kultur qualifiziert.
[36]
[36] Die abstrakten Ideale einer Kultur konkretisieren
sich in einem historischen Prozeß zu definierten Regeln.
So ist z. B. aus der bereits erwähnten Monogamie, die
ihren Ur-sprung in der christlichen Moral hat, eine in
einem institutionellen Kontext eingebettet Norm
geworden, die das Zusammenleben von Ehepartnern
kulturell-historisch definiert und den abweichenden Wert
der Polygamie sanktioniert.
Die Analyse der politischen Grundsatzdokumente und der
gesellschaftlichen Werteinstel-lungen in Europa zeigt
auf, das der europäische Kontinent über einen Katalog an
Werteminima verfugt, der von den Bürgern legitimiert
wird. Gemeinsame politische Traditionen wurden in den
letzten fünfzig Jahren kodifiziert und
institutionalisiert. Die europäischen Integrationsorgane
haben die Rolle übernommen, gemeinsame Rechtsnormen zu
formulieren und über deren Ein-haltung zu wachen.
Inhalte sind die Aufrechterhaltung der Demokratie und
der politischen, sozialen und ökonomischen Rechte des
Individuums in Europa.
Soweit das Datenmaterial eine Beurteilung zuläßt, wird
dieser Integrationsprozeß generell von der Bevölkerung
unterstützt. Auch die Inhalte des Integrationsprozesses
finden große Unter-stützung. Demokratie und
Menschenrechte sind der „harte Kern“ gemeinsamer
Wertvorstel-lungen der Europäer und bilden den kleinsten
gemeinsamen Nenner einer politischen Kultur in Europa,
deren Ursprung sich in dem Wunsch nach Frieden und
Sicherheit nach der Erfahrung zweier Weltkriege
begründet. Die letzten fünfzig Jahre weisen so eine
kulturelle Konvergenz auf, die darauf hindeutet, daß
Europa sich in einem Prozeß der Entwicklung einer
modernen poli-tischen Kultur befindet, der aber noch
nicht zu einer gemeinsamen kulturellen Identität geführt
hat. Vielmehr deutet die Konvergenz der nationalen Norm- und Wertsysteme darauf hin, daß Europa eine neue Ebene gesellschaftlicher Organisation etabliert hat, die sich von der Dominanz der nationalen Kultur und Identität zu lösen versucht. Die Etablierung gemeinsamer Institutionen und die Kodifizierung gemeinsamer Traditionen in herrschende Normen ist der Aus-druck eines europäischen Prozesses der Wertekonvergenz, der zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Kultur führen könnte. Voraussetzung dafür ist ein Kulturverständnis, daß den histor-isch gewachsenen regionalen und nationalen Kulturen in einem „polyzentrischen Europa“ (E. Morin) einen Platz garantiert. Dieser Spagat zwischen den nationalen Divergenzen und europäischen Konvergenzen ist die essentielle Herausforderung für Europa im nächsten Jahrtausend.
[1]
[1]
vergl. S. Immerfall (1990): Einführung in den
europäischen Gesellschaftsvergleich.
S. 40f.
[2]
[2]
vergl. J. Berting/W.F. Heinmeyer (199 ): „Europe
as a multilevel problem“. In: K. von
Benda-Beckman/M.Verkyten: Nationalism, Ethnicity
and
Cultural Identity in Europe.
S. 53-70
[3]
[3]
vergl. E. Morin (1990): Europa denken..
[4]
[4]
zur Fragestellung vergl. W. W. Mickel (1997):
„Kulturelle Aspekte und Probleme der
europäischen Integration“. In: Aus Politik und
Zeitgeschichte,
B 10/97, S. 17 In: Aus Politik und
Zeitgeschichte, B 10/97, S. 17
[5]
[5]
vergl. W.W. Mickel (Hrg.) (1998): Handlexikon
der Europäischen Union. S. XIII - XLII
[6]
[6]
Europarat (1950): Europäische
Menschenrechtskonvention. STE Nr. 5 (zitiert
nach
www.coe.fr/eng/legaltxt/5e.htm)
[7]
[7]
Europarat (1954): Europäische Kulturkonvention.
STE Nr. 18 (zitiert nach
www.coe.fr/eng/legaltxt/18e.htm)
[8]
[8]
Europarat (1961). Europäische Sozialcharta. STE
Nr. 35 (zitiert nach
www.coe.fr/eng/legaltxt/35e.htm)
[9]
[9]
Europarat (1996): Europäische Sozialcharta
(Neufassung). STE Nr.163 (zitiert nach
www.coe.fr/eng/legaltxt/163e.htm)
[10]
[10]
OSZE (1989): Charta of Paris for a new Europe.
(zitiert nach
www.osce.prag.cz/docs/archive.htm)
[11]
[11]
OSZE (1990): Charta of Kopenhagen. (zitiert
nach
www.osce.prag.cz/docs/archive.htm)
[12]
[12]
EU: Gemein. Erklärung des EP, des Rates und der
Kommission vom 5. April 1977 über die
Grundrechte. AB1. Nr.C 103 (zitiert nach
http://europa.eu.int)
[13]
[13]
Mitteilung der EU: Leitfaden 2.1.0. Die Achtung
der Grundrechte in der Union (zitiert nach
http://europa.eu.int/)
[14]
[14]
vergl. Europäisches Parlament (1989):
„Gemeinsame Entschliessung zur Erklarung der
Menschenrchte und Burgerfreiheiten“
[15]
[15]
vergl. W. Mickel (Hrg.)(1998): Handlexikon der
Europäischen Union.. S. 290f.
[16]
[16]
ebd. Artikel: „Grund- und Menschenrechte“,
288f.
[17]
[17]
vergl. D. Fuchs (1993): Wohin geht der Wandel
der demokratischen Institutionen in Deutschland?
In: G. Goehler (Hrsg.) Leviathan, Sonderheft 16,
S. 256f.
[18]
[18]
vergl. W. W. Mickel (1997): (Siehe Anmerkung 4)
S. 16
[19]
[19]
vergl. R. Dahrendorf (1993): Wohin steuert
Europa? Ein Streitgespräch. S. 128
[20]
[20]
vergl. S. Hradil/S.Immerfall (1997): Die
westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich. S.
27-71
[21]
[21]
Eurobarometer Nr. 32 1989 , Nr. 34 1190
[22]
[22]
S. Immerfall/A. Sobitsch (1997): „Europäische
Integration und europäische Identität. Die
Europäische Union im Bewußtsein der Bürger“.
In:
Aus Politk und Zeitgeschichte. B10/97, S.
27
[23]
[23]
EU: Leitfaden 2.1.0.: Die Meinung der Europäer
über die Kultur in Europa. (zitiert nach
http://europa.eu.int/)
24
S. Immerfall/A. Sobisch (1997): (Siehe Anmerkung
22) S. 33f.
[25]
[25]
vergl. Eurobarometer Nr. 30 1988, S. 37
[26]
[26]
Eurobarometer Nr. 37 1992.
Für Osteuropa liegen keine vergleichbaren Zahlen
vor.
[27]
[27]
Eurobarometer Zentral- und Osteuropa Nr. 6 1996
[28]
[28]
vergl. Eurobarometer Nr. 47 Marz-April 1997 S.
65f.
[29]
[29]
vergl. Europinion 13 November 1997, S. 6f.
[30]
[30]
zitiert nach J. Cazeneuve (1976): Dix grandes
notions de la sociologie. S. 34
[31]
[31]
Max Weber (1988): Gesammelte Aufsätze zur
Wissenslehre. S. 80
[32]
[32]
Talcott Parsons (1976): Zur Theorie sozialer
Systeme. S. 80
[33]
[33]
R. Boudon/F. Bourricaud (1993): Soziologische
Stichworte. Ein Handbuch. Artikel „Werte“, S.
659
[34]
[34]
vergl. R. Dahrendorf (1977): Gesellschaft und
Demokratie in Deutschland. S. 314
[35]
[35]
vergl. R. Boudon/F. Bourricaud: (Siehe Anmerkung
33), S. 663
[36]
[36]
vergl.
A. Giddens (1989): Sociology. S. 31
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